Offener Brief von Maximilian
Nitzschke-Stockmann an die Hohe
Politik
(24. Januar 2021)
An die Herren
Olaf Scholz, Finanzminister der
Bundesrepublik Deutschland
Peter Altmaier, Wirtschaftsminister der
Bundesrepublik Deutschland
Michael Müller, regierender
Bürgermeister der Stadt Berlin
Klaus Lederer, Bürgermeister der Stadt
Berlin, Kultursenator
Sehr geehrte Herren aus Bundes- und
Länderpolitik,
es war im März des vergangenen Jahres,
als Sie mit großen Worten Corona den
Krieg erklärten.
Ich erinnere Sie gern an Ihre
anfänglichen Worte, werte Herren
Finanzminister
Olaf Scholz (SPD) und
Wirtschaftsminister Peter Altmaier
(CDU).
Im März 2020 zogen Sie beide mit
martialischer Sprache in den erklärten
Krieg gegen einen unsichtbaren Feind,
und besonders im Ohr erklingen noch
vollmundige Erklärungen von Ihnen, Herr
Scholz.
Sie, Herr Altmaier, sprachen von der
»umfassendsten und wirksamsten
Hilfestellung in der Geschichte der
Bundesrepublik« und aus dem
Finanzminister wurde verbal der oberste
Kriegsherr: "Wir legen gleich alle
Waffen auf den Tisch, hier wird nicht
gekleckert, es wird geklotzt!"
Zeit, die Bilanz zu ziehen!
Sie beschlossen ein Soforthilfepaket für
kleinere und mittelständische
Unternehmen sowie für Selbstständige in
der Größenordnung von 50 Milliarden
Euro. Sie, Herr Scholz, versprachen
»schnell und unbürokratisch
Soforthilfe«. Sie, Herr Altmaier,
garantierten, »niemanden allein« lassen
zu wollen. Zehn Monate später hat sich
gezeigt, dass es mit der Sofort-Hilfe
nicht überall geklappt hat.
Monatelang hangeln sich Veranstaltungs-
und Kulturbranche von Hoffnung zu
Hoffnung, entwarfen Hygienekonzepte
gemäß den Vorgaben, aber ihre Not stößt
auf keinerlei Reaktionen. Da stellt sich
doch die Frage, hat Kultur zu wenig
Lobby? Ist Kunst vielleicht ein
Luxusgut, statt Identität und Ausdruck
seelischem und geistigem Empfindens?
Theater, Opernhäuser, Musicalhäuser,
Kleinkunstbühnen und alle Menschen
hinter den Kulissen einer Stadt, die für
ihre Vielfalt kultureller und musealer
Bestleistung bekannt ist, werden alleine
gelassen. All diejenigen, die alle
Phasen Ihrer Lockdownverlängerungen in
Zuckerbrot und Peitschenmanier bisher
abbekamen, hatten Verständnis für den
Schutz der Bevölkerung, aber sie
brauchen auch Perspektiven.
Sie jedoch vermitteln diese Perspektive
nicht, sondern nehmen scheinbar in Kauf,
Existenzen zu zerstören und beraubten
die Menschen einem Mittel der
Verarbeitung der Pandemie durch
Unterhaltung und Bildung (ganz im Sinne
einer Katharsis) zur Hoffnung und
Aufarbeitung dieser Zeit. Wenn Kultur
und Musik erstirbt, dann, werte Herren,
wird es sehr still werden - und Stille
führt zu Angst und Unwohlsein. Ich
fürchte, diesen Umstand sieht man
angesichts des zunehmenden
Unverständnisses für weitere Maßnahmen
durchaus. Maßnahmen steht auch für "das
Maß ist voll" und maßvoll.
Diese immense kulturelle Vielfalt und
Kreativität innerhalb der Stadt Berlins
wäre eine Stimme der Hoffnung für die
Menschen gewesen, anstatt sie mundtot zu
machen. Diese Szene mit 1,5 Millionen
Beschäftigten gehörte zu den ersten, die
von den notwendigen Einschränkungen zur
Bekämpfung der Covid-19-Pandemie
getroffen wurde. Trotz aller Bemühungen,
Ihnen entgegenzukommen mit eigenen
Hygienekonzepten, stößt man auf
bürokratische Hürden und fehlende
Empathie.
Dadurch wird dieser Bereich wohl auch
dank Ihnen als allerletzter mit einer
Rückkehr zum Normalbetrieb rechnen
können.
Was für eine Schande!
Keine andere Branche wurde von Ihnen als
Regierung so extrem und so lange mit der
Coronakrise in existenzielle Nöte
gebracht. Stiefmütterlich behandelt, was
aber, wenn wir diese Pandemie
überstanden haben und Sie gefragt werden
"Was macht für Sie Berlins oder
Deutschlands Kultur aus?" Fallen Ihnen
dann vielleicht nur die Luftfahrt, die
Technologiestandorte oder die
Automobilindustrie ein? Wie wäre zum
Beispiel der Friedrichstadtpalast mit
grandiosen Shows wie "Vivid", die man in
der New York Times mit Las-Vegas-Niveau
verglichen hat, wie wäre es mit der
Staatsoper, dem Berliner Ensemble, dem
Deutschen Theater, dem Musicalhaus
Theater des Westens, dem BKA-Theater
oder der Mercedes Benz Arena, der
Waldbühne, der Wuhlheide und der Verti
Music Hall?
Chapeau meine Herren, das grenzt schon
an Scheuklappenpolitik und maßlose
Respektlosigkeit gegenüber den
Produktionen, die nicht zuletzt auch
touristisch für den Stellenwert einer
Hauptstadt beitragen. Opernabende der
Kanzlerin in Bayreuth zu den
Wagner-Festspielen, meine Herren - Herr
Wagner drehte sich im Grabe um, wenn er
wüsste, wie sehr Kultur getreten wird!
Festivals wie etwa die gefeierte
Berlinale, in deren Kameralicht auch Sie
sich gern sonnen, leben nicht nur von
den Stars auf dem Laufsteg, sondern von
den Menschen hinter all den Kulissen.
Doch die Wertschätzung, die Taten und
letztlich mangelnde Empathie
verschärften die Gräben vermutlich nur
noch mehr.
Die Kulturszene ist besonders fragil,
und Ihre gut gemeinten, aber doch oft
hilflosen, halbherzigen und dadurch
wirklichkeitsfremden Hilfsprogramme
bleiben mehr oder minder wirkungslos.
Das größte Problem ist zudem, dass die
Bundesregierung den Solo-Selbstständigen
und Kleinstunternehmer*innen zwar
Soforthilfe-Zuschüsse für fixe
Betriebskosten zubilligt, nicht aber für
den Lebensunterhalt. Obwohl das
einhellig die Kultur- und
Wirtschaftsminister aller Bundesländer
sowie, auf Initiative Berlins und
Bremens, auch der Bundesrat gefordert
haben. Ich muss Sie daher fragen: Haben
Sie hier nicht nachgedacht oder sich
fachlich beraten lassen?
In der Praxis bedeutet das, dass die
über 700.000 Selbstständigen im
Kulturbereich zwar Zuschüsse zu ihren
»Fixkosten« erhalten, aber ansonsten
schauen müssen, wo sie bleiben. Wie
begründen Sie dies? In Berlin wurden
Büro- oder Atelier-Mieten bis zu 90
Prozent finanziert, wer aber auch noch
etwas essen oder trinken will, hat Pech
gehabt? Was nützt mir die Raummiete für
etwa Proberäume, wenn mir der Magen
knurrt und ich nicht weiß, was morgen
sein wird?
Die Entscheidung gegen einen sogenannten
Unternehmerlohn kam von Ihnen, Herr
Finanzminister Scholz. Immer wieder
nennen Sie die Grundsicherung - wenn
Künstler*innen, Kulturarbeiter*innen
oder Kleinstunternehmer*innen
Lebenshaltungskosten benötigen, sollen
sie doch auf Hartz IV zurückgreifen.
Herr Scholz: Das ist mangelnde Empathie
und kommunikativ ein Desaster! Ihre
Aussage widerspricht meinem Verständnis
von Solidarität mit den Menschen, denen
Sie im März 2020 etwas anderes
versprochen hatten.
Kultur-Existenzgeld für Künstler*innen,
Musiker*innen und Kulturarbeiter*innen
als Erweiterung der bestehenden
Künstlersozialkasse (KSK), mit der diese
Personengruppe auch im Fall
unverschuldeter Arbeitslosigkeit ihre
Existenz sichern könnte, was ist denn
aus dieser Idee geworden?
Generell greifen die Überbrückungshilfen
der Bundesregierung zu kurz! Etwa die
Beiträge zur Kranken- und
Pflegeversicherung der
Solo-Selbstständigen und
Kleinstunternehmer*innen werden nicht
erstattet, und ein fiktiver
Unternehmerlohn ist erst im jüngsten der
Hilfsprogramme vorgesehen. Warum erst so
spät? Ab Januar 2021 soll dann
»Überbrückungshilfe III« greifen,
nämlich maximal in Höhe der gesetzlichen
Pfändungsfreigrenze von knapp 1.180 Euro
monatlich. Für die meisten kleinen und
mittleren Firmen entspricht die
beantragte Hilfe nicht einmal 40 Prozent
des realen monatlichen Betriebsverlustes
im Corona-Jahr, und die Hilfen sind
alles andere als »unbürokratisch«.
Kein Wunder, dass bisher von den im
Konjunkturpaket ausgelobten 25
Milliarden Euro für die
Überbrückungshilfen gerade einmal etwas
mehr als zehn Prozent, nämlich 2,7
Milliarden Euro, bewilligt wurden. Die
Selbstständigen und kleinen und
mittleren Unternehmen im Kultursektor
sind in Not; nach Schätzungen von
Verbandsvertreter*innen kämpft mehr als
ein Viertel der Betriebe um die
Existenz!
Das zeigt mir, die bürokratischen und
realitätsfernen Programme sind im
Regelfall keine Hilfe oder werden viel
zu spät ausgezahlt, wenn überhaupt.
Sehen Sie das nicht?
Im Herbst verkündeten Sie
»Novemberhilfen« und kurz darauf
angesichts des verlängerten
(Teil-)Lockdowns »Dezemberhilfen«. 75
Prozent ihrer Umsätze aus dem
Vorjahres-Vergleichsmonat sollten die
Unternehmen erhalten, die im November
als Erste schließen mussten, also vor
allem aus der Kultur- und
Veranstaltungsbranche, Hotels und
Gaststätten. Das hörte sich zunächst
einmal gut an und in der
Veranstalterbranche war von einer Art
»Schweigegeld« der Bundesregierung die
Rede, das die lückenhaften und meist
wirkungslosen vorherigen
Überbrückungshilfen kaschieren würde.
Auch hier wollten Sie wieder »schnell
und unbürokratisch« helfen. Erneut kamen
die Worte von Ihnen, den Ministern
Scholz und Altmaier. Nun, was verstehen
Sie bitte unter schnell? Erst im Januar
2021 funktionierte die Beantragung der
Novemberhilfen endlich reibungslos.
Warum hat man nicht sofort den Fehler
versucht zu finden, um den Worten Taten
folgen zu lassen?
Die Gelder tröpfeln bei den meisten
Selbstständigen und Unternehmen
zweieinhalb Monate nach ihrer
Verabschiedung endlich ein.
Vor Weihnachten wurden
Abschlagszahlungen überwiesen; »in einem
besonderen Kraftakt von Bund und
Ländern« habe man »das System der
Abschlagszahlungen in kürzester Zeit
umgesetzt«, Jetzt aber, am 12. Januar
2021, stehe die Technik für die
Auszahlung, so Wirtschaftsminister
Altmaier, und von den beantragten fünf
Milliarden Euro Novemberhilfen sollen
drei bis vier Milliarden ausgezahlt
werden - bis Ostern …
Habe ich dies richtig interpretiert,
dass die verkündeten Novemberhilfen 2020
also zu Osterhilfen 2021 umgewandelt
worden sind?
Selbstständige und
Kleinstunternehmer*innen müssen hoffen,
dass sie so lange überhaupt noch
durchhalten.
Erlauben Sie mir die Frage, ob die von
der Bundesregierung mit Milliardenhilfen
gepamperten Großkonzerne wie Lufthansa
oder TUI auch mehr als vier Monate auf
die Auszahlung ihrer
Überbrückungskredite warten mussten?
Hier zeigt sich, dass Sie die
Selbstständigen und
Kleinstunternehmer*innen gerne in
Sonntagsreden als Rückgrat der
Wirtschaft rühmen, die in der Realität
Ihnen offenbar aber relativ schnurz
sind!
Für viele Betriebe stellt sich ein
weiteres, grundsätzliches Problem,
nämlich die Tücken und Fallstricke der
Beihilferegelungen. Wer etwa bereits im
März 2020 die Liquidität seines
Unternehmens durch eines der
Kreditangebote der KfW gesichert hat,
die seinerzeit mit staatlicher Hilfe
plötzlich zur Verfügung standen, dem
kann es passieren, dass er bei den
Novemberhilfen leer ausgeht. Als ob mit
Zins und Zinseszins zurückzuzahlende
Kredite Hilfen wären und nicht dringend
benötigte Liquiditätsspritzen. Dass die
Kredite auf die "Soforthilfen"
angerechnet werden, darüber hat man die
Antragsteller seinerzeit im Unklaren
gelassen.
Doch Sie, Herr Scholz, verkünden
frohgemut eine Wohltat nach der anderen.
Doch wo genau sehen Sie diese?
2021 ist ja schließlich Wahljahr und
Sie, Herr Scholz, dabei der
Kanzlerkandidat der SPD. Anfang Dezember
versprachen Sie uns in den Medien eine
»Ausfallversicherung für
Kulturveranstaltungen, die für die Zeit
ab Sommer 2021 geplant werden«. 2,5
Milliarden Euro sollen für diesen
Sonderfonds zur Verfügung gestellt
werden, an den Details werde noch
gearbeitet. Ein schöner Paukenschlag,
zumindest verbal, doch bis heute, mehr
als anderthalb Monate nach dem
öffentlichen Paukenschlag, sind immer
noch keine Details bekannt. Wie also
geht es hier voran? Gibt es dieses
Förderprogramm für Festivals und
Veranstaltungen ab Sommer 2021
überhaupt? Wird Ihre Kanzlerschaft gar
ein Festival der Kulturen werden?
Antragsteller*innen werden sich gut
überlegen müssen, ob sie sich auf grobe
Hilfszusagen verlassen wollen und
können, da doch das Beispiel der
Novemberhilfen gezeigt hat, dass auf die
Erklärungen der Bundesregierung nicht
unbedingt Verlass ist. Ein Kandidat wird
an seinen Taten bemessen, nicht an
Versprechungen die er nicht einhält!
Meine Herren, wie also geht es weiter?
Ich bedanke mich für Ihre Stellungnahmen
zu meinen Fragen, wie Sie sich die
Rettung von Kultur-, Event-, und
Veranstaltungsbranche im Jahr 2021
vorstellen, dabei erhoffe ich eine
Bilanz Ihrer Arbeit auf das Jahr 2020
und die Erläuterung der angeführten
Problemfelder.
Mit freundlichen Grüßen
Maximilian Nitzschke-Stockmann
Sendeverantwortung Kultur und
Kulturpolitik
Radio Rainbow City