Gesellschaft






Interview mit Redfern Jon Barrett vom 21. September 2019





Redfern Jon Barrett






Englische Originalversion des Interviews



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Daniel Aldridge:
Lieber Redfern Jon Barrett, herzlich willkommen im Studio.

Redfern Jon Barrett:
Ich freue mich, dass ich hier sein darf.

Daniel Aldridge:
Du warst schon einmal bei mir in der Sendung vor ein paar Jahren, aber jetzt ist es an der Zeit für eine Re-Imagination dieses Programms. Du bist Science-Fiction-Autor und Polyamorie-Aktivist, da haben wir einiges Interessantes zu besprechen, und es ist schön, dich wieder hier bei ALEX Berlin zu sehen.

Redfern Jon Barrett:
Die Freude ist ganz auf meiner Seite.

Daniel Aldridge:
Polyamorie klingt nach einem höchst interessanten Lebenskonzept. Als Einführung in dieses Thema hörten wir ja gerade die NDW-Band Trio mit dem Titel "Drei Mann im Doppelbett". Müssen wir uns das jetzt so vorstellen, dass ihr drei Leute seid, die in einem Doppelbett schlafen?

Redfern Jon Barrett:
Nun, das erste, was ich zu Polyamorie sagen kann, ist, dass es vermutlich so viele Varianten von Beziehungen gibt wie es Menschen gibt, die polyamorös leben. Ich habe viele polyamoröse Trios, Paare und Konstellationen kennengelernt. Ich selber bin seit ca. zehn Jahren polyamorös und hatte eine Reihe von unterschiedlichen Beziehungsformen. Für drei Jahre war ich in einem Trio. Und gerade jetzt habe ich das große Glück, mit zwei tollen Männern zusammen zu sein, Darren und Ismar, und mit denen habe ich eine Drei-Personen-Konstellation. Also, Polyamorie beinhaltet eine Menge spezifischer Bezeichnungen, die aber eigentlich ganz einfache Dringe beschreiben. Es gibt zum Beispiel Menschen, die geschlossene Beziehungen bilden, also wie eine kleine Familie sind. Andere haben multiple Beziehungen, sind also nicht fest miteinander zusammen. Einige bilden Netze. Es gibt bei Polyamorie eine Menge von Variationen. Es ist faszinierend, denn es gibt den Menschen die Möglichkeit, herauszufinden, welche Art von Beziehungen für sie funktioniert.

Daniel Aldridge:
Von unseren beiden Redaktionsmitgliedern Tatjana und Max kam die Frage, ob es da so etwas gibt wie eine Haupt-Beziehung zwischen zwei Menschen, wobei die dritte Person dann eher eine Zusatz-Beziehung darstellt, oder ob es eher so etwas wie eine Dreieckskonstellation mit gleicher gegenseitiger Fürsorge und Verantwortung darstellt.

Redfern Jon Barrett:
Es existieren beide dieser Beziehungsformen. Ich selber mag es nicht, da zu sagen "Du bist die Nummer Eins, und du bist Nummer Zwei". Ich möchte keine solchen hiercharischen Verhältnisse für die Menschen in meinem Privatleben. Wenn ich mit jemandem zusammen bin, dann nehme ich die Sache sehr ernst, und ich möchte beide wissen lassen, dass ich zu ihnen stehe und sie sehr liebe, und dass sie nicht belanglos sind wie bei einer Haupt- und Nebenbeziehung. Ich schätze beide gleichermaßen, beide sind ein enormes Glück für mich. Und ich würde niemals jemand sagen wollen "Du kommst erst an zweiter Stelle." Ich bin also in einer Beziehung mit Darren und Ismar. Die beiden sind nicht zusammen, aber zum Glück verstehen sie sich miteinander sehr gut. Wir verbringen eine Menge Zeit zu dritt.

Daniel Aldridge:
Das ist dann bei dir kein Dreieck, du bist eher in der Mitte zwischen zwei verschiedenen Leuten.

Redfern Jon Barrett:
Ja, es ist eigentlich eine ziemlich lockere Angelegenheit. Es fällt uns sehr leicht, Zeit miteinander zu verbringen. Vor ein paar Monaten waren wir drei zusammen im Urlaub in Barcelona und hatten eine wirklich schöne Zeit dort. Ich denke, sowas ist sehr wichtig. Wenn du mit zwei Leuten zusammen bist, müssen die natürlich miteinander gut klarkommen, ansonsten hat man ein sehr großes Problem.

Daniel Aldridge:
Was die genannte Vielfalt an Beziehungsformen betrifft, überlege ich mir gerade alle möglichen unterschiedlichen Aspekte, so wie zwei Frauen und ein Mann, die zusammen sind, oder zwei Frauen und zwei Männer. Also direkt, wie viele Menschen kann man denn unterbringen in einer Beziehung, oder ist es bei zum Beispiel fünf Leuten nicht schon etwas zu viel "Aufwand", um die Bedürfnisse aller bei einer solchen Komplexität zu erfüllen?

Redfern Jon Barrett:
Das hängt wirklich von jedem selber ab. Ich zum Beispiel mag es einfach sehr, zu Hause zu sein. Ich mag Netflix. Wenn ich mit meinen Partnern zusammen bin, mache ich gerne einfach nichts oder spiele Computerspiele. Ich bin, glaube ich, ein sehr langweiliger Mensch. Und in meinen Beziehungen bin ich gerne mit Menschen zusammen, mit denen ich einfach auf dem Sofa abhängen oder essen gehen kann. Andere Personen, die mehr Zeit haben oder die etwas energetischer sind als ich, können vielleicht mehr Partnerschaften aufrechterhalten, aber das hängt alles von den Menschen und den Umständen ab, was für sie funktioniert.

Daniel Aldridge:
Würdest du die Möglichkeit einer Homo-Ehe für Drei befürworten?

Redfern Jon Barrett:
Ja, ich habe zu diesem Thema erst kürzlich etwas geschrieben und veröffentlicht. Ich bin nicht nur ein Befürworter von Polyamorie, sondern ich bin generell der Ansicht, dass sich die Natur der menschlichen Beziehungen am Anfang des 21. Jahrhunderts verändert. Das betrifft nicht alle, es gibt immer noch sehr viele, die vollkommen glücklich leben können mit monogamen Beziehungen. Aber es zeigen sich heutzutage eben viele Alternativen für andere Menschen. Man kann polyamorös leben oder verschiedene Partner haben, oder vielleicht hat man auch eine Langzeitbeziehung mit einem Freund. Und für all diese Situationen muss es ebenfalls eine Form gesetzlichen Schutzes geben. Ich musste zum Beispiel kürzlich leider ins Krankenhaus, und mein Partner Darren durfte mich begleiten, während mein Partner Ismar draußen warten musste. Und diese Art von Situation ist vielleicht noch vielen Schwulen oder Lesben in Erinnerung, als deren Beziehungen überhaupt nicht gewürdigt wurden und den Partnern oder Partnerinnen der Besuch im Krankenzimmer nicht erlaubt war. Solche Benachteiligungen entstehen auf viele Arten, sei es beim Erbe oder bei den Einwanderungsgesetzen. Die Menschen werden von einem System ausgeschlossen, das nur eine einzige legale Beziehungsform anerkennt, nämlich die monogame. Da gibt es also noch jede Menge Verbesserungsmöglichkeiten.

Daniel Aldridge:
Viele können sich das ja überhaupt nicht vorstellen. Ist da Stigmatisierung nicht auch ein Problem?

Redfern Jon Barrett:
Es kann passieren. Also, bei mir ist es ja zehn Jahre her, dass ich anfing, mich für Polyamorie zu öffnen. Und es gab seitens meiner Freunde und meiner Familie eine Menge Bedenken und Zögern. Aber als sie dann tatsächlich sehen konnten, wie meine Beziehungen funktionierten und respektvoll waren, als sie sehen konnten, dass wir uns tatsächlich sehr lieben und dass wir dieselbe Art von langweiligem Leben führen wie jedermann (lacht), da wurde die Sache viel mehr akzeptiert. Vor ein paar Jahren gab es ein sehr schönes Erlebnis, als ich bei der Hochzeit meiner Mutter war, und auf ihrer Einladung hieß es, ich dürfe zwei Personen mitbringen. Ich bin dort also mit meinen beiden Partnern auf der Hochzeit meiner Mutter gewesen, wo alle Verwandten und Freunde waren. Denen stellte ich die beiden vor, und alle haben das akzeptiert und waren sehr positiv. Das war wunderschön, aber auch gleichzeitig ziemlich seltsam (lacht). Ich hatte eigentlich sogar mit viel mehr Fragen gerechnet und mehr ... ja nicht Feindschaft, aber mit Bedenken. Aber wenn die Leute etwas persönlich erfahren können, das sie mit ihren eigenen Augen sehen können, dann verstehen sie es auch und können daraus sogar etwas für sich gewinnen. Die Menschen können viel aufgeschlossener sein als man im Allgemeinen erwartet.

Daniel Aldridge:
Du bist ja auch Polyamorie-Aktivist. Was für Aspekte beinhaltet dieser Aktivismus? Außerdem hörte ich, dass du Vorlesungen hältst zu dem Thema an Universitäten.

Redfern Jon Barrett:
Nun, eines meiner Bücher zum Thema Polyamorie wird bei verschiedenen Universitäten in den USA als Unterrichtsmaterial in Seminaren behandelt. Und was den Aktivismus betrifft, es gibt momentan ja noch keine großen Polyamorie-Organisationen oder Interessenverbände. Eine Menge von meinen Aktivitäten habe ich daher selber organisiert. Das waren zum Einen Gespräche mit Politikern, die ich zu deren Blickwinkel hinsichtlich Polyamorie und zukünftiger Entwicklungsmöglichkeiten befragte, zum Anderen waren da Vorträge, die ich auf Konferenzen hielt. Ich sprach zu dem Thema auch bei der Debattiergesellschaft der Universität von London. Was ich versuche, ist einfach in der öffentlichen Sphäre ein Bewusstsein für dieses Thema zu schaffen und zu sagen "Hey, wir sind hier, und wir existieren."

Daniel Aldridge:
Wir werden unser Gespräch gleich nach dem nächsten Song fortsetzen. Der stammt von den beiden deutschen Sängerinnen und Schwestern Annette und Inga Humpe und heißt "3 of Us".


(Musik)


Daniel Aldridge:
Wir hörten gerade das Lied "3 of Us" von Humpe und Humpe. Dabei geht es übrigens auch um eine Dreieckskonstellation, welche die Erzählerin mit ihren beiden Freunden Denise und Jim initiieren möchte, aber wir erfahren nicht, ob die Sache klappt oder nicht. Doch die Erzählerin ist kompliziert, Denise ist ein Freigeist, und Jim ist reich - das klingt vielleicht mehr wie ein Klischee, dass wir für unsere unvollständige Persönlichkeit Komplementäraspekte in zwei anderen suchen, die auch nicht in einer Person vereinbar sind.

Redfern Jon Barrett:
Da kann ich wiederum auch nur von meinen persönlichen Erfahrungen sprechen. Ich bin zum Beispiel mit Darren seit dreizehn Jahren zusammen, und er ist ein völlig anderer Charakter als ich, wir könnten kaum noch unterschiedlicher sein. Ich neige dazu, gerne zu reden, vielleicht manchmal zu sehr, und Darren ist mehr der sehr ruhige Typ. Aber es funktioniert immer sehr gut zwischen uns, obwohl wir sehr verschiedene Menschen sind. Und Ismar habe ich Ende letzten Jahres kennengelernt, und bei ihm gibt es viel mehr Übereinstimmungen mit mir, und das funktioniert ebenfalls sehr gut. Das, was Polyamorie ermöglicht, ist die Fähigkeit, die verschiedenen Seiten deiner Persönlichkeit zu erforschen. Du verhältst sich ja oft sehr unterschiedlich bei Begegnungen, bei der einen Person auf diese Weise und bei der anderen auf eine andere. Und eine Beziehung mit mehreren Menschen zu haben, erlaubt es einem, die verschiedenen Aspekte der eigenen Persönlichkeit zu erforschen.

Daniel Aldridge:
Kommen wir zum nächsten Thema, denn du bist ja auch Schriftsteller!

Redfern Jon Barrett:
Ja! (lacht)

Daniel Aldridge:
Das finde ich ganz toll, und ich habe deine beiden Romane gelesen.

Redfern Jon Barrett:
Ich fühle mich sehr geehrt.

Daniel Aldridge:
Sie heißen "Forget Yourself" und "The Giddy Death of the Gays and the Strange Demise of Straights". Über diese beiden Werke müssen wir jetzt sprechen, damit die Zuhörer genauer erfahren können, wovon sie eigentlich handeln.

Redfern Jon Barrett:
Ja, gerne. Also, das eine Buch hat einen sehr kurzen Titel, und das andere einen sehr langen.

Daniel Aldridge:
Mehr brauchen wir eigentlich auch nicht zu wissen.

Redfern Jon Barrett:
(lacht) Es sind zwei sehr unterschiedliche Werke. Das Thema Polyamorie wird aber in allen beiden erforscht. Sie sind beide "queer" auf verschiedene Art und Weise. "Forget Yourself" erforscht die Frage der Identität - was ist in uns, wer sind wir? Es ist ein Roman über Innenschau und Selbsterkenntnis. Er handelt von einer Welt, in der etwa hundert Menschen in einem abgeschirmten Gelände leben, die keine Erinnerungen haben an ihr vorheriges Leben oder an die Welt außerhalb dieses Bereichs. Und diese Leute versuchen nun, wieder eine Gesellschaft aufzubauen nach ihren Überlegungen, wie die Verhältnisse in der Außenwelt gewesen sein könnten. Es ist gewissermaßen ein sehr abstrakter Roman, aber er erlaubt der Hauptprotagonistin Blondee, die unterschiedlichen Aspekte ihres Wesens zu erkennen. Sie geht eine Beziehung mit zwei anderen Menschen ein, einer Frau und einem Mann, und diese beiden Beziehungen machen das Leben jeweils komplizierter für sie, und sie kann durch diese Beziehungen genauer herausfinden, wer sie selber ist. Es ist eine ziemliche Science-Fiction-Geschichte. Der andere Roman "The Giddy Death of Gays and the Strange Demise of Straights" hingegen spielt sich in unserer Wirklichkeit ab, genauer gesagt in South Wales, wo ich früher gelebt habe, und es geht dabei um eine Wohngemeinschaft von zwei Männern, die sich auf einmal ineinander verlieben. Sie sind beide eigentlich heterosexuell, und ihre Liebe ist von einer romantisch-platonischen Art und Weise. Zwischen den beiden entwickelt sich eine sehr intensive Liebesbeziehung. Aber sie bilden wiederum eine Beziehung mit der Freundin des einen Mannes, mit Caroline. Dieser Roman erforscht das Identitätsgefühl, das die drei durch diese Beziehung gewinnen. Die Geschichte ist anders als "Forget Yourself", dort findet alles in diesem sehr engen Bereich statt, wo sich niemand an irgendetwas erinnern kann. In "The Giddy Death of the Gays and the Strange Demise of Straights" hingegen leben die Charaktere in South Wales, und es finden dort die gleichen politischen Entwicklungen wie in unserer jetzigen Wirklichkeit statt. Es gibt politische Demonstrationen und eine sehr lebendige komplexe Welt um die drei Hauptfiguren, und die drei müssen ihren Weg und ihren Platz in dieser Welt finden mit ihrer Dreierbeziehung.

Daniel Aldridge:
Für mich waren diese Romane sehr aufschlussreich und unterhaltsam. Bei dem Roman "Forget Yourself" fand ich den Schluss sehr interessant - also es kommt jetzt kein Spoiler Alert - aber es ist faszinierend, wie am Schluss sehr viele unterschiedliche Erzählebenen aufeinandertreffen, die ineinander fließen, und ich dabei feststelle, es ist nicht ganz klar, was ist die eigentliche Wirklichkeit, aber gleichzeitig ist es auch überhaupt nicht mehr notwendig, das zu wissen. Das war eine ungewöhnliche Offenbarung.

Redfern Jon Barrett:
Das Ende war gar nicht so geplant, als ich die Arbeit an dem Roman anfing. Ich hatte zunächst eine viel mehr weltliche und alltägliche Entwicklung im Sinn. Ich konnte in dem Roman niemals eine genaue Erklärung festlegen, wie diese Welt geschaffen wurde, und der Roman - also ohne das Ende zu verraten - ... der Roman erforscht Möglichkeiten. Und er erforscht mittels dieser Möglichkeiten, wer wir sind. So lässt sich das Thema dieser Geschichte zusammenfassen, es geht um die Möglichkeiten und das Potential unseres Wesens. Also um die Art, wie wir in unsere Welt passen. Blondee findet ihr Wesen in verschiedenen Welten und verschiedenen Erzählebenen. In "The Giddy Death of the Gays and the Strange Demise of Straights" ist die Erzählweise eine ganz andere.

Daniel Aldridge:
Was den Schreibvorgang betrifft, orientierst du dich da an bestimmten erzähltheoretischen Konzepten oder ist das eher eine emotionale Angelegenheit, bei der du nicht zu sehr nachdenkst über den Schöpfungsprozess? Und überhaupt - wie lange hast du gebraucht, um diese Romane zu schreiben?

Redfern Jon Barrett:
(schmunzelt) Nun, ich stelle mir zunächst vor, wieviel Zeit ich zum Schreiben eines Romans benötige, das ist etwa ein Jahr. Zum Anderen schreibe ich den Roman dann noch einmal komplett um, wenn er fertig ist, und das mache ich dann noch einmal - und dann muss ich einen Verleger finden. Es dauert also eher drei oder vier Jahre! Und zur narrativen Frage, auf die konzentriere ich mich schon sehr. Es passiert oft, dass ich anfange mit einer Geschichte, das erste Kapitel mal als Ich-Erzähler in der Gegenwartsform schreibe und dann in der dritten Person in der Vergangenheitsform umschreibe - das mache ich einfach, um zu sehen, was passt am besten für die Charaktere. Diese Überlegungen finden hauptsächlich am Anfang des Prozesses statt. "Forget Yourself" zum Beispiel wird von einer Ich-Erzählerin erzählt, in "The Giddy Death of the Gays and the Strange Demise of Straights" hingegen gibt es vier verschiedene Ich-Erzähler. Das hat viel Spaß gemacht, da ich auf diese Art dieselbe Szene von den verschiedenen Standpunkten der Charaktere aus betrachten konnte, die die Geschichte auf unterschiedliche Weise erzählen. Im Augenblick arbeite ich an einem neuen Roman, in dem es um das Thema Schikane und Mobbing geht, und den schreibe ich im Präsens als Ich-Erzähler. Er erzählt also von Dingen, die ihm angetan werden, genau zu dem Zeitpunkt, an dem sie passieren. Und das ist ziemlich wichtig, denn der Fokus liegt damit auch auf den Gedanken des Protagonisten - durch die gesamte Handlung hindurch. Der Leser kann sehen, wie der Charakter gequält wird und wie sich das auf seine innersten Gedanken und Gefühle auswirkt - in Echtzeit, als es passiert. Ich wollte also eine Unmittelbarkeit der Schilderung. Der Leser soll der Hauptfigur nahe sein und verstehen, was dieser Mensch durchmacht, und ihn bei diesen seelischen Veränderungen begleiten - zu dem selben Zeitpunkt, an dem er diese Erfahrungen macht.

Daniel Aldridge:
Das klingt sehr beeindruckend, diesen neuen Roman von dir werde ich dann auch gerne lesen. Ich sehe gerade, uns wird die Zeit allmählich etwas knapp, aber ich habe dennoch eine letzte Frage zu einem ganz anderen Thema, so unerfreulich dieses auch ist. Du lebst ja hier in Berlin, bist aber aus Großbritannien, und da kündigt sich eine dunkle Bedrohung an, welche Brexit genannt wird. Wie wirkt sich das auf dich und die anderen im Berliner Exil lebenden Briten aus?

Redfern Jon Barrett:
Das macht uns allen sehr zu schaffen. Ich habe das große Glück, dass ich in dieser Stadt seit beinahe einem Jahrzehnt lebe. Hier ist mein Wohnort, und ich habe einen Antrag gestellt auf die deutsche Staatsangehörigkeit. Aber es gibt dazu viel zu sagen, zum Beispiel besteht eine Menge Unsicherheit darüber, was da eigentlich vorgeht. Auf welche Weise wird der Brexit stattfinden? Wie lange wird es dauern, bis ich die deutsche Staatsbürgerschaft habe? Wird uns eine doppelte Staatsangehörigkeit bewilligt - also deutsch und britisch - oder müssen wir uns für eine entscheiden? Das ist noch eine vergleichsweise einfache Situation für uns, wir haben da mehr Glück als viele andere Briten, die ich hier kenne in der Stadt. Ich kenne aus vielen Gründen Engländer hier, einige von denen konnten sich nicht registrieren lassen, andere leben erst seit viel kürzerer Zeit in Berlin, dann gibt es da auch Hartz-IV-Empfänger. Bei all diesen Leuten besteht jetzt viel Furcht und Unsicherheit darüber, was der Brexit bedeuten wird für sie. Wie können wir zum Beispiel nach England fahren, um Freunde oder die Familie zu besuchen? Für die, die hier ihren Wohnort haben, bedeutet es den Verlust der EU-Zugehörigkeit. Und das ist wirklich eine emotionale Angelegenheit für viele von uns. Ich glaube fest daran, dass wir eine europäische Zusammengehörigkeit aufbauen und erhalten müssen, um einander zu begegnen und zusammen zu arbeiten. Dass man uns all dies entreißen will, ähnelt fast der Erfahrung einer Gewalttat. Außerdem stellen sich da eine Menge praktischer Fragen für uns - denn wir werden nicht mehr in der Lage sein, uns in andere EU-Länder zu begeben. Mit der deutschen Staatsangehörigkeit muss ich in Deutschland leben und arbeiten - kann das aber nicht mehr in Frankreich, Spanien oder den Niederlanden oder irgendeinem anderen Land der EU. Was aber das Schlimmste ist, sehen wir jetzt bei Boris Johnson. Es wird allmählich deutlich, wie der Brexit von Anfang an eine rechte autoritäre Bewegung war. Und durch Boris Johnson wird es noch offensichtlicher. Theresa May hat sich eher zurückgehalten und nur Andeutungen gemacht, sie hat uns "Bürger des Nirgendwo" genannt. Boris Johnson hingegen zeigt es deutlicher durch die verordnete Zwangspause des Parlaments und seine Aussage, er werde die gesetzlichen Vorschriften ignorieren. Und er hat bei den Rechten eine rassistische und xenophobe Basis, die ihn stützt. Johnson zeigt, was der Brexit wirklich ist. Und das ist eine Entwicklung, die - wenn wir nicht aufpassen - in Großbritannien zu einer autoritären Regierungsform führen könnte. Tja, und wenn man queer ist und polyamorös und ein Immigrant so wie ich, dann bricht es mir geradezu das Herz, wenn ich sehe, was mein Heimatland gerade durchmacht.

Daniel Aldridge:
Ja, wir würden uns wünschen, dass Großbritannien in der EU bleibt. Also - Berlin sendet hiermit eine Nachricht an die Insel: "Bitte bleibt in der EU." Aber wir müssen zum Schluss kommen.

Redfern Jon Barrett:
Vielen Dank, dass ich hier sein durfte.

Daniel Aldridge:
Gerne - es war toll, und wir werden dich wieder einladen zu uns ins Studio, vielleicht wenn dein nächster Roman erscheint.

Redfern Jon Barrett:
Das würde mir auch gefallen.

Daniel Aldridge:
Ganz herzlichen Dank.

Redfern Jon Barrett:
Ich danke dir.


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Link zur URL-Seite von Redfern Jon Barrett:
redjon.com

Link zu einer amerikanischen URL-Seite mit Begriffserklärungen zum Thema Polyamorie:
lovingmorenonprofit.com




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